Eine Illustration mit zwei Bergsteigern – einer hat einen Stiefel ausgezogen, die andere schaut sich Pflanzen unter der Lupe an.
Mutmaßungen und Detektivarbeit in den Bergen. Illustration: Mathias Scholz
Das Geheimnis der Isovaleriansäure

Eine Detektivgeschichte über stinkende Socken

Mitunter geben die Berge Rätsel auf. Und es dauert Jahre, bis sich diese Rätsel lösen lassen. Aber von vorne:

September 2007, Ötztal: Wie alles begann

„Sagt mal, wer von euch hat denn solche Schweißfüße, dass die Socken schon nach dem ersten Tag durch die Schuhe stinken?“, frage ich meine Seilpartner beim Aufstieg zum Fluchtkogel kurz vor dem Gletscher. Keiner fühlt sich schuldig, beide geben aber zu, dass sie sich ähnliches gefragt haben.

Im weiteren Aufstieg erkennen wir dann, dass der buttersäurige Geruch gar nicht von uns kommt, sondern offensichtlich sporadisch durch Flora oder Fauna verbreitet wurde. Auch an den folgenden Tagen stolperten wir immer mal wieder über diesen Geruch, ohne jedoch die Ursache zu finden.

September 2022, Ortler

Mehrere Jahre nehmen wir diesen Geruch eher selten wahr, aber am Ortler tritt er wieder extrem in den Vordergrund. An der Hintergrathütte fragen wir viele Gäste, ob sie es auch riechen könnten. „Ja klar, das ist der …!“ meint ein Einheimischer, kann uns aber die entsprechende Pflanze nicht zeigen. Super, denke ich mir, endlich ist das Rätsel gelöst. Leider habe ich am nächsten Tag den Namen vergessen. Welches der vielen Kräuterlein auf und zwischen den Kalkfelsen das Schuldige sein mag, ist indes immer noch nicht herauszufinden. Je näher man mit der Nase an die Pflanzen kommt, desto schneller verflüchtigt sich das Aroma. Verflixt.

Oktober 2023, Tannheimer Tal

Auf unseren Klettertouren und Klettersteigen packt uns das Ermittlungsfieber. Wie Detektive, oder besser ihre Spürhunde, kriechen wir manchmal auf Knien und schnuppern an allen Pflanzen, die sich zwischen die Felsen schmiegen. Folgende Verdächtige glauben wir, ausschließen zu können: Enzian, Alpen-Edelweiß und Alpen-Aurikel. Sehr verdächtig macht sich die Silberwurz, die überall dort in rauen Mengen wächst, wo unsere Nasen aufmerksam werden. Leider ist sie auch oft die Einzige, die mit Sicherheit bestimmt werden kann neben all den unscheinbaren Blättern ohne Blüten. 

Schnell von der Verdächtigenliste ausgeschlossen: das Edelweiss. – Man findet findet es einfach zu selten, als dass es wirklich in Frage käme. Foto: Nadja Birkenmeier

August 2024, Drakensberge, Südafrika

Häh? Schon wieder? Hier? Verrückt! Also Silberwurz gibt es hier nicht, aber Berg-Nelkenwurz kann die Pflanzenbestimmungs-App Naturblick erkennen.

August 2024, Hohe Tauern

Völlig klar: es ist die Silberwurz. Der Geruch begleitet uns den ganzen Aufstieg zur Böseckhütte. Auf jede Geruchswolke folgt ein Meer von Silberwurz am Wegesrand. Vereinzelt können wir auch die prächtigen Samenstände der Kriech-Nelkenwurz bewundern. Dazwischen finden wir zwar immer wieder andere Pflanzen, nur können wir diese nicht bestimmen. Unzufrieden bin ich aber immer noch, da der endgültige Beweis – ein direktes Geruchserlebnis an einer Pflanze – aussteht. Es liegt immer nur in der Luft. Nie können wir die Witterung direkt an einem Silberwurzexemplar aufnehmen. Auffällig ist allerdings, dass der Duft und die Silberwurz verschwinden, sobald wir von Kalkstein auf Granit wechseln. 

Der prachtvoller Samenstand der Kriech-Nelkenwurz, auch gelber Speik genannt, beeindruckt fast mehr als ihre gelben Blüten. Foto: Nadja Birkenmeier

September 2024, Leipzig

Bei einer Veranstaltung in der Messehalle finde ich am DAV-Stand eine Broschüre: „Pflanzengeschichten“.

Mich packt die Neugier und ich suche sogleich die Silberwurz. Leider hilft mir der Artikel dazu überhaupt nicht weiter. Enttäuscht blättere ich noch ein wenig in den eigentlich interessanten Geschichten herum, bis ich plötzlich folgenden Abschnitt finde:

 „Speziell der Felsen-Baldrian strömt bei Verletzungen der Pflanze, wie sie schon beim Betreten mit Bergschuhen passieren, einen intensiven Geruch nach Schweißfüßen aus, was in einer Wandergruppe zu Missdeutungen führen kann.“ – Also das ist ja eindeutig das, was wir suchen. Nun ist das Feuer wieder entfacht und mit frischem Forschungsdrang geht es nach:

Oktober 2024, Rax, Schneeberg

Mit unserem neuen Wissen und noch empfindlicheren Nasen spüren wir an felsigen, ausgesetzten Stellen im Kalk weitere verdächtige Pflanzen auf: Bittere Schafgarbe und Berg-Baldrian. Am stärksten riecht noch die Schafgarbe direkt am Standort, diese hatte ich aber zuvor noch nie gesehen. Nun bin ich endgradig verwirrt. Als ich am Abend auf der Hütte beim Kartenspiel kurz daran denke, dass auch meine Socken wieder einmal gewaschen werden müssen, finde ich in meiner Tasche ein paar welke Blätter Berg-Baldrian, die ich enttäuscht eingesteckt habe, als sie frisch gepflückt nur nach Grün rochen. Endlich, jetzt kann ich es ganz klar riechen, es sind nicht meine Socken, sondern der lang gesuchte Geruchsbeweis.

Die gezielte Recherche fügt nun alle Puzzleteile zusammen … 

Die Lösung

Echter Baldrian: „Valeriana celtica (Echter Speik) (Baldriangewächse): Der Name „Speik“ geht auf alte Benennung der Pflanze „spica celtica“, zurück; lateinisch celtica (= im Land der Kelten)“, heißt es in dem DAV-Heftchen. Weiter erfahre ich, dass noch andere Pflanzenarten als „Speik“ bezeichnet werden, zum Beispiel die Klebrige Primel als Roter Speik und die Bittere Schafgarbe als Weißer Speik.“

Bittere Schafgarbe – weißer Speik (Achillea clavenae). Foto: Adobe/gabriffaldi

Speik. Oder auch Speick. – Ja genau, jetzt erinnere ich mich: der nette Herr an der Hintergrathütte hatte diesen Begriff verwendet! Dieser bezieht sich also nicht auf eine einzige Pflanze, sondern ganz verschiedene mit starkem, aromatischem Geruch.

Ich konsultiere Wikipedia und erfahre: Auch die Alpen-Aurikel – eine Primel, die dem Roten Speik ähnlich ist – als Gelber oder Wilder Speik bezeichnet. Diese hatten wir doch eigentlich schon als unverdächtig ausgeschlossen! Die Kriech- und Berg-Nelkenwurz wird im Volksmund ebenfalls als Gelber Speik bezeichnet. Und Breitblättriger Lavendel dient als Ausgangsmaterial für Speiköl.

Die Alpen-Aurikel wird auch Gelber Speik genannt. Foto: pixapay/LittleThought

Typisch für die Baldriane und die anderen Speik-Pflanzen sind die Duftöle, die gerne schon immer in der Heilmedizin, Parfüm- und Seifenherstellung verwendet wurden. So enthalten auch die geruchlich umstrittenen Naturkosmetika der Firma Speick (immer noch) Extrakte aus Echtem Speik, der im heutigen UNESCO Biosphärenpark Nockberge in Kärnten traditionell gestochen wird.

„Die frischen Wurzeln des Echten Baldrians verbreiten einen starken, fruchtig-frischen, prickelnden und aufsteigenden Geruch. Erst bei getrockneten Wurzeln kommt die schwere, erdige Komponente hinzu, die für den lange anhaltenden, schweißartigen Geruch verantwortlich ist. Beide, der fruchtige wie der schweißähnliche Geruch, sind der Valeriansäure bzw. ihren Derivaten geschuldet – in der Reihe der organischen Säuren steht die Valeriansäure nahe bei der Buttersäure.“ – Als ich dies online in einer Abschlussarbeit über den Baldrian lesen, wird mir einiges klarer:

Das ist also der Grund dafür, dass die welken Blätter in meiner Tasche so viel stärker rochen als die frischen Pflanzen. Die Valeriansäure und vor allem die Isovaleriansäure (3-Methylbuttersäure) werden in größeren Mengen erst beim Welken oder Trocknen der Pflanzen in größerem Umfang freigesetzt und verursachen diesen charakteristischen Geruch. Deshalb haben wir die Ausdünstungen immer erst am Ende des Sommers, bei Trockenheit oder im Herbst wahrgenommen. Nun kann ich auch noch einen der für uns bisher unbestimmbaren aber oft gefundenen Bodendecker als Zwerg-Baldrian identifizieren.

Der Zwerg-Baldrian mit Fruchstand aus dem Ortlergebiet, der erst nach der Lösung des Geheimnisses bestimmt werden konnte. Foto: Nadja Birkenmeier

Das verschworene Kartell des Speiks hat nun verloren und wurde entlarvt. Die Silberwurz kann von allen Anschuldigungen freigesprochen werden. Ebenso wie unsere Seilpartner, jedenfalls beim Bergsteigen oberhalb der Waldgrenze. In der Kletterhalle jedoch hat der Geruch sicherlich keine pflanzlichen Ursachen …

Über die Autorin

Nadja Birkenmeier ist im Sommer wie im Winter gerne in den Alpen unterwegs: Wandern, Klettern, Hochtouren, Skitouren. Für die Sektion Leipzig  übernimmt sie die Redaktion des Mitteilungsheftes  und schreibt auch gerne einmal selbst einen Beitrag.

Lösung gefunden! Foto: Archiv Nadja Birkenmeier
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